«Eltern bleiben Eltern»

    Wie viele Pflege- und Heimkinder in der Schweiz leben, ist unklar. Gemäss Schätzungen sind zwischen 18’000 und 19’000 Kinder und Jugendliche fremduntergebracht. Der Aufwand um geeignete Pflegeeltern zu finden, nimmt allerdings zu. Heute braucht es stete Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung für die Thematik. Diese Erfahrungen macht auch Karin Gerber, Stellenleitern der Fachstelle für das Pflegekind im Kanton Aargau.

    (Bild: zVg) Kinder in schwierigen Lebenssituationen: Die Fachstelle für das Pflegekind im Kanton Aargau ist laufend auf der Suche nach geeigneten Familien.

    Woher kommen diese Pflegekinder, respektive was sind häufige Hintergründe für eine Fremdplatzierung?
    Karin Gerber: Die Kinder kommen aus den unterschiedlichsten Familienkonstellationen. Viele Faktoren führen dazu, dass es zu einer Fremdunterbringung kommt. Meist wurden vorgängig schon etliche Versuche unternommen (Beratung, aufsuchende Familienbegleitung, Eltern-Kind-Unterkünfte etc.), um dem dysfunktionalen Familiensystem Unterstützung anzubieten. Die Fremdunterbringung stellt für alle Beteiligten eine gravierende Intervention dar und muss sorgfältig abgeklärt werden. Eltern können meist aus den verschiedensten Gründen nicht dafür sorgen, dass ihre Kinder im angestammten Familiensystem die notwendige Unterstützung erhalten: Vernachlässigung, Verwahrlosung, psychische, physische und sexuelle Gewalt, Krankheit der Eltern, Hospitalisierung und vieles mehr.

    Was bedeutet für ein Kind emotional bei Pflegeeltern zu wohnen?
    Das Kind soll von Anfang an in den Prozess der Unterbringung involviert werden und möglichst transparent darüber aufgeklärt werden, weshalb es zur Unterbringung kommt und wie lange dies andauern kann (Perspektivenklärung). Die Anbahnung und Eingewöhnung erfolgt sehr sorgfältig und wird dem Rhythmus des Kindes angepasst. Eltern bleiben Eltern und die leiblichen Eltern bleiben meist in Kontakt mit ihren Kindern (Besuchskontakte) und sie werden in den Prozess des Aufenthaltes miteinbezogen. Kinder können zu verschiedenen Personen eine tragfähige Beziehung/Bindung aufbauen. Eine offene, dem Alter des Kindes angepasste Kommunikation hilft in diesem Prozess. Gelingt es den Pflegeeltern zum Herkunftssystem eine wohlwollende Haltung aufzubauen, so unterstützt dies das ihnen anvertraute Pflegekind sehr, denn Kinder sind meist sehr feinfühlig und nehmen sehr vieles wahr. Eine unterstützende Zusammenarbeit hilft Loyalitätskonflikte zu verhindern.

    (Bild: zVg) Seit zehn Jahre ist Karin Gerber Stellenleiterin der Fachstelle für das Pflegekind im Kanton Aargau: Sie stellt immer wieder das Wohl der Pflegekinder und ihrer Familien ins Zentrum und hilft das Bewusstsein für die Bedeutung von Pflegefamilien zu schärfen.

    «Wann empfiehlt sich für ein Kind eine Platzierung bei Pflegeeltern und wann eine Heimplatzierung?»
    Jedes Kind sollte «zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen» – so die Präambel der UNO-Kinderrechtskonvention. Leider kann nicht jede Familie ein solches Umfeld bieten. Die Wahl der optimalen pädagogischen Massnahme für jedes einzelne Kind stellt eine grosse Herausforderung dar und muss sorgfältig geprüft werden. Gerade bei jüngeren Kindern bietet sich eine Pflegefamilie an, denn das familiäre Umfeld respektive eine konstante Bezugs- respektive Betreuungsperson kann sich positiv auswirken. Es muss jedoch in jedem einzelnen Fall geschaut werden, was die beste Lösung für das Kind ist. Gründe für eine Heimunterbringung können psychotische, suizidale Kinder und Jugendliche, aber auch Kinder und Jugendliche mit einer hohen Gewaltbereitschaft oder akuter Suchtproblematik sein. Aber auch Kinder und Jugendliche von Eltern mit erhöhtem Gewaltpotenzial oder von Eltern, bei denen Entführungsgefahr der Kinder besteht, können in einem Heim platziert werden.

    Pflegeeltern zu finden ist schwierig geworden. Wieso?
    Die gesellschaftlichen Bedingungen haben sich verändert; häufig sind beide Elternteile im Arbeitsprozess integriert und müssen arbeiten. Trotz Teilzeit-Pensen müssen viel berufstätige Eltern die Betreuung ihrer Kinder organisieren. Sei dies durch Kindertagesstätten, Grosseltern, Nachbarn. Das ist aufwändig und teilweise kompliziert. Dadurch tritt die Frage nach einem Pflegekind oftmals in den Hintergrund oder taucht gar nicht erst auf. Zudem wird der Wohnraum laufend teurer und gleichzeitig knapp.

    Wer eignet sich, Pflegekinder zu betreuen?
    Die Pflegekinderverordnung (PAVO) ist zuständig für die Pflegeplatzbewilligung. Damit eine Bewilligung erteilt wird, müssen Art. 5 Allgemeine Voraussetzungen der Bewilligung erfüllt sein: Konkret heisst dies: «Die Bewilligung darf nur erteilt werden, wenn die Pflegeeltern und ihre Hausgenossen nach Persönlichkeit, Gesundheit und erzieherische Eignung sowie nach den Wohnverhältnissen für gute Pflege, Erziehung und Ausbildung des Kindes Gewähr bieten und das Wohl anderer in der Pflegefamilie lebender Kinder nicht gefährdet wird.»
    Wir klären interessierte Personen sorgfältig ab und es dauert zwischen sechs und zwölf Monaten, bis sie in unserem Pool aufgenommen sind. In mehreren Gesprächen wird die Eignung geklärt: Erziehungsstil, Gesundheit, familiäre Struktur, Kommunikationsfähigkeit und einiges mehr. Das Einverständnis der eigenen Kinder für eine Aufnahme wird vertieft thematisiert. Angehende Pflegeeltern sollen beziehungsfähig und kontaktfreudig sein und haben eine positive Lebensgrundhaltung. Sie sind belastbar, flexibel, humorvoll und können mit nicht eindeutigen Situationen umgehen. Sie erfüllen einen öffentlichen Auftrag in einem privaten Rahmen, werden zu einer «öffentlichen Familie». Mit dem Vorbereitungsseminar erfahren wir mehr über die Stärken und Schwächen und die Reflexionsfähigkeit der Teilnehmenden. Sie verpflichten sich zu einer Zusammenarbeit mit der Fachstelle, besuchen Supervision und Weiterbildung und unterstützen die ihnen anvertrauten Kinder bestmöglich in ihrer Entwicklung.

    Wie läuft eine Pflegeplatzierung ab?
    Die platzierende Fachperson wendet sich mit einer Anfrage an uns. Wir möchten möglichst viel über die aktuelle Situation des Kindes und seiner Familie erfahren, damit wir in unserem Pool an Pflegefamilien schauen können, ob wir ein passendes Angebot machen können. Die Wünsche des Herkunftssystem werden im Prozess mitberücksichtigt. Auch die geografische Lage ist von Bedeutung, damit die Besuchskontakte zum Kind aufrechterhalten werden können. Wir thematisieren den Passungsprozess immer zu zweit und können aufgrund unserer offenen Pflegefamilien im Pool ein Angebot unterbreiten oder aus mangelnder Passung kein Angebot. Können wir ein Angebot unterbreiten, lernen sich die beteiligten Personen in einem nächsten Schritt persönlich kennen. Das Kind wird, wenn immer möglich, beim Eintritt von seinen Eltern und der Fachperson begleitet. Ein sehr zentraler Übergang, an den sich das Kind später immer wieder erinnern wird. Parallel zu diesem Aufnahmeprozess muss die Kostenübernahmegarantie erfolgen. Wir haben einen Leistungsauftrag mit dem Kanton AG; d.h. ist der zivilrechtliche Wohnsitz im Kanton Aargau, so können wir über den Kanton abrechnen.

    Was braucht es, damit ein Kind zurück zu seiner Herkunftsfamilien kann?
    Wie schon erwähnt, soll bei Beginn einer Fremdunterbringung immer auch die Perspektive des Aufenthaltes definiert werden. Dies gilt, genauso sorgfältig zu planen und durchzuführen wie die Fremdunterbringung selbst. Wir weisen bei einer möglichen Rückkehroption auf unser spezielles Konzept hin und begleiten das Kind, die Eltern und die Pflegeeltern in diesem Prozess. Im Zentrum steht das Gelingen der Rückkehr.

    Was sind auf der Fachstelle momentan die grössten Herausforderungen?
    Wir begleiten sehr anspruchsvolle und komplexe Pflegesysteme. Verschiedene Akteure mit den unterschiedlichsten Aufträgen sind involviert. Mit allen Beteiligten eine gute Zusammenarbeit zu etablieren und das Kindswohl nicht aus den Augen zu verlieren, stellt immer wieder eine grosse, jedoch wichtige Herausforderung dar.

    Welche Forderungen haben Sie an die Gesellschaft, respektive die Behörden und Politik in der Thematik?
    Über die Position und Rolle als Dienstleistungsanbieter Familienhilfe wird in der Schweiz unterschiedlich diskutiert und entschieden. Auch als Non-Profit-Organisation mit einem kantonalen Leistungsauftrag wird unsere Arbeit von den verschiedensten Akteuren unterschiedlich wahrgenommen und taxiert. Nicht selten erleben wir, dass wir nicht genügend in die jeweiligen Aufenthaltsprozesse miteinbezogen werden und letztendlich über keine Entscheidungskompetenz verfügen. Unsere Dienstleistung ist beratender und begleitender Natur. Wir sind darauf angewiesen, dass unter den verschiedenen involvierten Parteien eine förderliche Zusammenarbeit angestrebt wird oder besteht.

    Interview: Corinne Remund


    Informationsanlass am 31. Oktober in Aarau

    Die Fachstelle Pflegekind Aargau sucht laufend herzliche und engagierte Pflegeeltern für Kinder und Jugendliche. Interessierte sind zum Informationsanlass «Pflegefamilie werden» herzlich eingeladen. Sie erhalten Informationen rund um das Pflegekinderwesen und zur Zusammenarbeit mit der Fachstelle Pflegekind Aargau. Zudem werden Pflegeeltern aus ihrem Alltag berichten und für Fragen zur Verfügung stehen. Im Anschluss steht ein Apéro bereit.

    • Donnerstag, Aarau: 31. Oktober 2024, 19.00 bis ca. 21 Uhr im «Roschtige Hund», Ziegelrain 2, 5000 Aarau
    • Anmeldung: bis 7 Tage vor dem Anlass per
      E-Mail an info@pflegekind-ag.ch

    Mehr Infos: www.pflegekind-ag.ch

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