Normalität zum Kopfschütteln!


    Mit spitzer Feder …


    Nach den erneuten Lockerungen vom 27. Mai kehren wir in eine neue «Normalität» zurück. Unser Alltag gestaltet sich zwar (noch) nicht wie vor der Corona-Krise, doch immerhin normaler und weniger eingeschränkt als in den letzten zwei Monaten. Nach wie vor sind Abstand und Händewaschen sowie desinfizieren, desinfizieren und nochmals desinfizieren ganz grossgeschrieben. Die beiden ersten Massnahmen sollten eigentlich unabhängig von Covid-19 selbstverständlich sein. Letzteres ist «Politik für die Psyche» und der Nutzen fraglich. Zwar übertreiben wir es damit nicht ganz wie China, Italien und Spanien und nebeln ganze Strassenzüge mit Desinfektionsmittel ein, um die Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen. Doch auch bei uns wird im Alltag, in den Läden, auf den Bahnhöfen, am Postschalter, im Büro, beim Coiffeur, ja sogar im Sandkasten bei den Jüngsten, entkeimt – und zwar sehr genau und sorgfältig. Ein gutes Beispiel dafür ist das Coop-Restaurant. Da stehen reihenweise Halbliterflaschen mit Desinfektionsmitteln zwischen den Auslagen im Salat-, Gemüse- und Kuchenbuffet. Gäste werden gebeten, doch bitte die Hände zu desinfizieren oder Gummihandschuhe anzuziehen, falls man gedenkt, Schöpfkelle oder Tortenschaufel anzufassen. Und es gibt tatsächlich einige Schlaumeier, die es schaffen, ihre Hände so reichlich zu desinfizieren, dass das Entkeimungsmittel über Belegte Brote, Gurkensalat und Erdbeertörtchen hinuntertropft. Mir vergeht da der Appetit gründlich! Für mich – wie Gott sei Dank auch für einige Wissenschaftler und Virologen – ist der Nutzen hier sehr fraglich, wenn nicht sogar schädlich. Massenhaft Desinfektionsmittel kann logischerweise gesundheitliche Folgen nach sich ziehen. Die Substanzen können Atemweg und Haut schädigen und dürfen schon gar nicht eingenommen werden. Mikroorganismen können so Toleranzen gegen Wirkstoffe bilden, wenn die in nicht tödlicher Konzentration ausgesetzt werden. Deshalb gilt auch hier wie bei allem: weniger ist mehr. Wir haben als gesunder Mensch ein wundervolles Immunsystem, das in der Regel im Alltag bestens mit Viren und Bakterien zurechtkommt. Deshalb lasst die Desinfektionsmittel den Spitälern, Arztpraxen und Altersheimen, wo sie wirklich benötigt werden. Spätestens seit der Sandkasten-Zeit wissen wir doch: Kleine (und grosse) Kinder brauchen Viren und Bakterien – das härtet ab.

    Eine äusserst fragwürdige, zeitaufwändige und ärgerliche Aktion im Zusammenhang mit Covid-19 sind fehlende Salz- und Pfefferstreuer. Als ich mich kürzlich – auch im Coop-Restaurant – nach Salz und Pfeffer für mein aus dem Wasser gezogenes Gemüse erkundigte, erhielt ich von einer gleichgültigen Service-Angestellten zu Antwort. «Haben wir nicht, aber Sie können gerne in die Küchen gehen und darum bitten.» Wie bitte? Ein weiteres Kopfschütteln ausgelöst hat bei mir die Sperrung von WCs in den Restaurationsbetrieben. Drei separate WCs, davon sind zwei geschlossen und das Frauen-WC wurde zum Unisex-WC umfunktioniert – ein absolutes No-Go und eine Zumutung für mich, aber das ist eine andere Geschichte! Soweit die Sachlage, die Idee dahinter: Quadratmeterzahlen, zu enger Raum für drei Personen. Wo kann man sich da anstecken, wenn jeder für sich in einem geschlossenen stillen Örtchen sein Geschäft verrichtet? Der Virus kriecht durchs Schlüsselloch? Auch das ist unter «Politik für die Psyche» oder «hirnloser Entscheid eines Schreibtischtäters in Bern» abzubuchen.

    Der wöchentliche Grosseinkauf mutet an wie eine Exkursion in feindliches Gebiet. Der Feind wiederum ist unsichtbar und könnte überall lauern: in der jungen Frau, die zielstrebig mit dem Einkaufswagen vorbeizieht, oder im schnaufenden Jogger, der den Hof passiert, selbst im Kleinkind der Nachbarsfamilie. Das Coronavirus hat unser Empfinden gegenüber anderen innerhalb weniger Wochen verändert. Die Pandemie bündelt und verstärkt Tendenzen, die in der Gesellschaft bereits existieren. Dazu gehört die Begegnung des Fremden mit latenter Abwehr, denn die wenigsten von uns sind bereit, sich auf etwas Neues, Fremdes, einzulassen – oftmals auch mit unklarem Ausgang. Es liegt daher auf der Hand – die Erfahrungen der Krise dürften Spuren hinterlassen, auch wenn die Gefahr einmal weitgehend gebannt sein sollte.

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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