«Sprache bleibt wichtigstes Kommunikationsmittel der Menschen»

    Viele Lehrpersonen, Eltern und Betroffene selbst wissen immer noch zu wenig über Lese- und Rechtschreibestörungen LRS, obwohl eine solchen den Alltag der Betroffenen teilweise (stark) beeinträchtigt. Für die Behandlung solcher Störungsbilder braucht es Logopädinnen und Logopäden. Der Beruf ist noch zu wenig oder gar nicht bekannt. Wie der Berufsalltag aussieht und wie Probleme rund um Lesekompetenz und Rechtschreibung erkannt und erfolgreich angegangen werden können, zeigt uns Milena Loffredo, Vorstandsmitglied des Vereins Aargauer Logopädinnen und Logopäden.

    (Bild: zVg) Der VAL-Vorstand macht jeweils am Tag der Logopädie am 6. März auf Probleme rund um Lesekompetenz und Rechtschreibung aufmerksam.

    Die Sprache und der sprachliche Ausdruck haben in unserem Leben auf allen Ebenen einen zentralen Stellenwert. Ist sich dies unsere Gesellschaft bewusst? Welche Erfahrungen machen Sie da?
    Milena Loffredo: Die Sprache ist das wichtigste Kommunikationsmittel des Menschen und sie ist omnipräsent: an der SBB Anzeigetafel, im WhatsApp, beim Einkaufen in der Migros. Wenn man keine sprachlichen Einschränkungen hat, wird einem das auch nicht bewusst. Das Bewusstsein für Sprachstörungen und deren Behandlungsmöglichkeiten kommt meistens erst auf, wenn die Person selbst (oder Angehörige, Bekannte…) davon betroffen ist. Das Ziel der Logopädie ist die sprachliche Barrierefreiheit, sowie es die Behindertenrechtskonvention anstrebt.

    Wie verläuft die normale Sprachentwicklung?
    Das Kind läuft verschiedene Meilensteine in der Sprach- und Sprechentwicklung durch, um seine Muttersprache anzueignen. Diese gehen vom Brabbeln, Lallen sowie von Blicken über das Verstehen von Wörtern und Sätzen bis hin zu Produktionen von ganzen Satzeinheiten und Führen von Gesprächen.

    Welches sind die häufigsten Sprachstörungen bei Kindern respektive Erwachsenen?
    Bei Kindern treten die meisten Störungen in den Bereichen Aussprache, Wortschatz und Wortfindung, Satzbau und Sprachverständnis auf. Bei einer Sprachentwicklungsstörung können Auffälligkeiten auf diesen Ebenen zusammen vorkommen. Redeflussstörungen, Lese- und Rechtschreibstörungen, Stimmstörungen sowie Auffälligkeiten im Kommunikationsverhalten sind ebenfalls logopädische Behandlungsbereiche bei Kindern. Ausserdem können Einschränkungen der Sinneswahrnehmung, der Motorik, des sozialen und emotionalen Verhaltens negative Auswirkungen auf die Sprache haben. Im Erwachsenenalter sind logopädische Interventionen meistens aufgrund von Erkrankungen (Tumore, Schlaganfälle) oder infolge eines Unfalls (Schädel-Hirn-Traumata) nötig. Bekannte Störungsbilder sind Aphasien (Sprachstörung nach Hirnverletzung), Dysarthrien (Störung der Sprechbewegung), Dysphonien (Stimmstörungen) und Dysphagien (Schluckstörungen).

    Wann ist eine logopädische Abklärung notwendig?
    Eine logopädische Abklärung und/oder Beratung im Kindesalter ist dann nötig, wenn Abweichungen von der normalen Sprachentwicklung auftreten und das Kind für die Umwelt nicht oder schwer verständlich ist und ein Leidensdruck beim Kind besteht (eher bei älteren Kindern). Beispiele dafür sind das Ausbleiben von Wortproduktionen im 2. Lebensjahr, eine von der Norm deutlich abweichende Lautbildung oder ein länger anhaltendes Stottern. Wenn bei einem mehrsprachigen Kind zur Zweitsprache ebenfalls die Muttersprache Probleme aufweist, sind logopädische Massnahmen notwendig. Ab dem Schulalter werden zudem Störungen des Schriftspracherwerbs untersucht. Bei Erwachsenen müssen logopädische Abklärungen eingeleitet werden, wenn zum Beispiel Wortfindungsstörungen oder eine undeutliche Aussprache/ viele Versprecher plötzlich auftreten und über eine längere Zeit beobachtbar sind. Eine Beratung und Abklärung sind auch sinnvoll, wenn die Stimme länger heiser klingt oder sich die Person häufig verschluckt.

    Es ist eine Tatsache, dass viele Kinder nicht gerne lesen. Auf was führen Sie dies zurück und verstärkt sich dieser Umstand in unserer multidigitalen Welt eher?
    Die Digitalisierung wird sicher immer wichtiger und ist in der Welt der Kinder nicht mehr wegzudenken. Oftmals wird aber schon das Kleinkind mit animierten Bildern mehr beschallt als mit ihm kommuniziert. Konsumiert das Kind mehrheitlich und erhält kein sprachliches Feedback, wird das den Spracherwerb einschränken. Der Austausch über das Gesehene wäre aber ein wichtiger Faktor für die Verständnissicherung und die Weiterentwicklung des Wortschatzes und der Satzbildung. Diese Bereiche der Sprache bilden auch die Basis für einen gelingenden Schriftspracherwerb, weshalb eine frühe Auseinandersetzung damit unerlässlich ist. Im frühen Kindesalter sollte auf digitale Medien deshalb eher verzichtet werden. Bilderbücher sind da die bessere Alternative. Geschichten vorlesen und erstmals mit einem Text in Kontakt zu kommen, fördert die Vorläuferfertigkeiten für das spätere Lesen und Schreiben.

    Die digitalen Medien haben Vor- und Nachteile, für den Spracherwerb sind sie allerdings wenig geeignet. Was ist hier die Problematik aus logopädischer Sicht?
    Die Sprachentwicklung ist an Handeln und Erfahrungen im Alltag geknüpft, was durch den Konsum von digitalen Medien wenig gefördert wird. Visuelle Darstellungen wirken attraktiver und sind für das Hirn weniger anstrengend. Da sie dem Verständnis helfen, muss die Sprache zusätzlich nicht zwingend verstanden werden. Digitale Medien können aber auch unterstützend sein – im Alltag sowie auch in der logopädischen Therapie. Es gibt diverse gute Apps oder Computerprogramme für verschiedene sprachliche Bereiche. Die Kinder müssen jedoch dabei begleitet werden und die Anwendung sollte in Massen dosiert werden. Das gilt für zuhause sowie auch für die Therapie.

    (Bild: pixabay) In der Logopädie werden die Kinder mit ihrer sprachlichen Schwierigkeit konfrontiert. Das Lernen soll Spass machen.

    Wie motivieren Sie Kinder zum Lesen und Schreiben?
    In der Logopädie werden die Kinder mit ihrer sprachlichen Schwierigkeit konfrontiert. Das Lernen soll deshalb Spass machen. In der Therapie liegt das Ziel darin, den Leidensdruck zu reduzieren und den Nutzen der Arbeit aufzuzeigen, weshalb die Therapie meistens auf eine spielerische Art erfolgt. Für die Erledigung von Aufgaben können Wochenpläne helfen. Auch das Miteinbeziehen von Interessen und Hobbies wirken unterstützend. Bei älteren Kindern kann zum Beispiel auch WhatsApp für das Senden von Sprachnachrichten oder Schreiben von Sätzen genutzt werden. Die Eltern sollten bei den Aufgaben stets miteinbezogen werden. Sie funktionieren als Vorbild und tragen zu einem positiven Lernerfolg bei ihrem Kind bei.

    Wie gefragt ist der Beruf des Logopäden respektive der Logopädin?
    Die Ausbildung zur Logopädin oder zum Logopäden ist gefragt. Es besteht aber ein Mangel an Ausbildungsplätzen. An bestimmten Ausbildungsstätten müssen jedes Jahr Studierende abgewiesen werden. Es zeigt sich aber auch das Bild, dass der Beruf in der Gesellschaft noch nicht bekannt genug ist. Denn wann kommt man meistens mit der Logopädie in Kontakt? Eben erst dann, wenn man selber betroffen ist oder Angehörige oder Bekannte mit sprachlichen Problemen konfrontiert sind. Aussagen wie «Logopädie? Das ist das mit den Füssen?» (gemeint ist hier die Podologie – ein ganz anderes Fachgebiet) oder «Logopädie ist dann nötig, wenn das Kind den R und S nicht richtig sagen kann», sind allgegenwärtig. Wahrscheinlich wissen viele nicht, wie vielfältig der Beruf ist und wie viele unterschiedliche Tätigkeitsbereiche die Logopädie abdeckt.

    Eine grosse Herausforderung ist zurzeit in diesem Berufsfeld der Fachkräftemangel. Auf was führen Sie dies zurück?
    Wie oben erwähnt, besteht eine Knappheit an Ausbildungsplätzen. Diesem Phänomen konnte durch diverse politische Gespräche entgegengewirkt werden: Ab kommendem Jahr werden die Studiumsplätze an der FHNW in Muttenz erweitert. An der PH Luzern ist der Studiengang in Zusammenarbeit mit der HfH Zürich ebenfalls ermöglicht worden. Die Unbekanntheit des Berufes und das daraus resultierende mangelnde Wissen über die Bandbreite des Berufs hat vermutlich auch einen Einfluss auf die Vakanz im logopädischen Bereich. Ausserdem wurden geburtenstarke Jahrgänge pensioniert, was ebenfalls Auswirkungen auf die logopädische Versorgungslage haben kann. So wie viele andere Berufe im Bildungsbereich auch, ist jener der Logopädie mehrheitlich ein Frauenberuf. Dies ist vielleicht kein Grund für den Fachkräftemangel, sollte aber bei der aktuellen Entwicklung auch erwähnt und bedacht werden.

    Wie Sie erwähnten, gab die Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW kürzlich bekannt, dass der Studiengang Logopädie ab 2023/24 jährlich angeboten wird. Was bedeutet dies für Ihr Metier konkret?
    Es bewirkt eine Erleichterung im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Der Nachwuchs im logopädischen Fachgebiet kann so sicherer gestellt werden. Für die Vereine heisst dies aber auch, dass es vermehrt Werbung braucht, damit die Studienplätze auch besetzt werden. Ausserdem müssen praktizierende Logopädinnen und Logopäden mehr Plätze für ein Praktikum zur Verfügung stellen, welches in der Ausbildung absolviert werden muss.

    Welchen Stellenwert hat die Sprache respektive die Logopädie auch im Hinblick auf den (coronabedingten) Digitalisierungsschub in Zukunft?
    Durch die Digitalisierung wird sich sicher auch die logopädische Therapie in verschiedenen Bereichen anpassen müssen. Da die Logopädie das Ziel hat, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für die betroffene Person zu ermöglichen, bleibt die mündliche und schriftliche Sprache aber sicherlich Fokus der Therapie, denn diese ist und bleibt das wichtigste Kommunikationsmittel des Menschen.

    www.val-ag.ch

    Interview: Corinne Remund

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